Strahlend vor Freude stehe ich mitten in einer riesigen Kokosnuss-Plantage und begutachte die Pferde, die, an Palmen gebunden, vor sich hindösen. Es sind Mangalarga Marchadores, die nationale Gangpferderasse Brasiliens. Mit einem Stockmass um die 150 cm sind sie nicht allzu gross und von Schimmel über Schecken bis zum Rappen, sind alle Fellfarben vertreten. Ich bin gespannt, welches mein Weggefährte für den siebentägigen Ritt entlang der Nordostküste Brasiliens zum Fluss Rio San Francisco sein wird.
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Ich schaue geduldig zu, während die ersten meiner neuen Reiterfreunde ihr Pferd kennenlernen und aufsteigen. Endlich ruft Jacira, die Besitzerin der Herde, meinen Namen. Etwas aufgeregt gehe ich rüber zum Wallach, den sie für mich ausgewählt hat. Er ist ein mittelgrosser Brauner mit einem wunderschönen Kopf, grossen Nüstern und ausdrucksvollen Augen. «Das ist Leão. Sein Name bedeutet «Löwe» und er ist mein bestes Pferd. Du wirst ihn lieben» meint Jacira. Na ja, das sagt sie sicher jedem, denke ich mir und schwinge mich in den Sattel. Kaum aufgestiegen, merke ich aber … das ist ein ganz spezielles Pferd, wie ich selten eins geritten habe. Man spürt seinen Enthusiasmus sofort und doch reagiert er auf nur den sachtesten Kontakt mit dem Hackamor.
Ich streichle ihm über die Mähne und bevor ich mich versehe, reiten wir los. Wir durchqueren die Kokosnuss-Plantage und erreichen innert Minuten den breiten, menschenleeren Strand, dem wir während den nächsten Tagen folgen werden. Die Pferde haben eine unglaubliche Gehfreude und ein langsamer Start im Schritt kommt für sie nicht infrage. Stattdessen sind wir im Nu in der relativ schnellen Marcha, so heisst ihre vierte Gangart, unterwegs. Je nach Pferd und dessen Veranlagung bewegen wir uns entweder in der diagonalen Marcha Batitda oder in der noch bequemeren, lateralen Marcha Picada fort. Da ich in meiner Jugend Paso Finos ritt und somit mit einer ähnlichen Reitweise und Gangart vertraut bin, fühle ich mich im Nu pudelwohl im Sattel.
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Mit dem Wind in den Haaren und der salzigen Meeresluft in der Nase reiten wir den Strand entlang und lernen nicht nur unsere Pferde, sondern auch einander besser kennen. Wir sind zehn Reiterinnen und Reiter aus Südafrika, Kanada, den USA, Brasilien, Belgien und ich aus der Schweiz. Wir verstehen uns auf Anhieb sehr gut, haben einen ähnlichen Humor und mögen es auch mal einen Zacken zuzulegen.
Die Strecke heute ist allerdings nicht allzu lang und soll uns einfach die Gelegenheit geben, uns mit unseren Pferden und der neuen Reitweise bekannt zu machen. Nach etwas weniger als drei Stunden erreichen wir eine Lagune und einen kleinen Fluss, der hier ins Meer mündet. Diesen werden wir mit den Pferden durchqueren und haben extra dafür den Badeanzug eingepackt. Wir ziehen uns um, deponieren die Sättel und unsere Sachen auf einem Boot, und schwimmen einer nach dem anderen mit unserem Pferd zum anderen Ufer. Die Strömung ist stärker, als ich gedacht habe. Zum Glück ist Leão ein besserer Schwimmer als ich und ich kann mich an seinem Hals festhalten. Was für ein Erlebnis!
Auf der gegenüberliegenden Flussseite angelangt übergeben wir die Pferde den Vacqueiros, die lokalen Cowboys, die uns begleiten, und setzen uns zu den Sätteln ins Boot. Wir fahren die Lagune hoch, ankern an einem seichten Ort, lassen Musik laufen und setzen uns mit einem Bier ins Wasser. Die Stimmung ist ausgelassen. Wie könnte es anders sein? Wir befinden uns an einem absolut paradiesischen Ort und dürfen während den nächsten Tagen die Gegend mit unseren tollen Pferden erkunden!
Anschliessend an unser «Apéro» fahren wir mit dem Boot zu einem kleinen Restaurant am Strand, wo Caipirinhas und feine Fischgerichte und Meeresfrüchte auf uns warten. Den Rest vom Nachmittag und Abend verbringen wir entspannt auf dem Deck unserer kleinen Pousada (Herberge), hören Musik und schwimmen in der Lagune.
Nach einer erholsamen Nacht geht es am nächsten Morgen weiter dem Strand entlang. Wir dürfen uns mit unseren Pferden frei bewegen, müssen einfach sporadisch auf den Rest der Gruppe warten. Das Gefühl der Freiheit ist unbeschreiblich. Wir galoppieren entlang dem scheinbar endlosen, menschenleeren Strand, perfektionieren die Marcha und reiten stellenweise ins Meer hinein. Die Pferde fühlen sich offensichtlich pudelwohl und haben, im Gegensatz zu vielen ihrer Artgenossen, überhaupt keine Angst vor den Wellen. Sie sind hier zu Hause. Sie laufen unbekümmert ins Meer, springen durch die Wellen und machen einen rundum zufriedenen Eindruck.
Vereinzelt machen wir einen Abstecher ins Landesinnere und durchqueren riesige Kokosnuss-Plantagen, mit Palmen, so weit das Auge reicht. Auch an Zuckerrohrplantagen reiten wir vorbei und probieren frisches Zuckerrohr. Mir schmeckt es nicht sonderlich, aber Leão kann nicht genug davon bekommen. Manchmal durchqueren wir kleine Dörfer und immer wieder kommen uns Leute hoch zu Pferd entgegen. Da einige der Dörfer nicht mit Strassen erschlossen sind oder nur über den Strand erreichbar sind, sind Pferde hier ein gängiges «Fortbewegungsmittel» und die Mangalarge Marchadores eignen sich nicht nur aufgrund ihrer bequemen Gangart, sondern auch aufgrund ihres ausgesprochen sanftmütigen und menschenbezogenen Wesens bestens dafür. Kein Wunder sind sie so offensichtlich der Stolz ihrer Besitzer – viele tragen aufwendig verzierte Sättel und handgefertigtes Zaumzeug.
Während den nächsten Tagen gewöhnen wir uns an einen gemütlichen Rhythmus aus Reiten, Schwimmen, Essen, Trinken und Schlafen. Wir übernachten in herzigen Gasthäusern am Strand oder in kleinen Fischerdörfern. Das Mittagessen wird in Strandrestaurants, auf Kokosnuss-Plantagen oder auf nahegelegenen Ranches serviert. Die Gerichte sind typisch für die Region und beinhalten oft frischen Fisch und Meeresfrüchte. Dazu gibt es gekühltes Kokosnusswasser direkt aus der Kokosnuss, Caipirinhas oder Wein. Es fehlt uns an nichts, im Gegenteil.
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Touristen gibt es hier kaum. Wir haben auf jeden Fall bis jetzt noch keine gesehen. Auch Englisch spricht niemand. Trotzdem treffen wir aber immer wieder unglaublich herzliche Menschen, die unsere Reise bereichern. Einer davon ist Vinny. Er ist ein Coiffeur, der in einem winzigen Fischerdorf direkt am Strand seinen Coiffeursalon betreibt. Wir lernen ihn in unserer kleinen Pousada kennen. Er hat seine Gitarre dabei und wir verbringen den Nachmittag und Abend mit ihm. Er spielt Gitarre und singt. Nach ein paar Drinks singen wir lautstark mit.
Am nächsten Tag winkt er uns zu, wenn wir an seinem Coiffeursalon vorbeireiten, und unseren Weg Richtung Rio San Francisco fortsetzen. Nachdem wir vier Tage lang mehrheitlich am Strand entlang geritten waren, wird sich die Landschaft heute verändern. Jacira erklärt uns, dass wir die enormen Piaçabuçu Dünen durchqueren werden. Es solle ein etwas langsamerer, aber genauso eindrücklicher Tag werden.
Die Dünen sind unglaublich hoch und erstrecken sich, so weit das Auge reicht. Ich bin beeindruckt, mit was für einer Leichtigkeit die Pferde den Weg meistern. Zum Glück weht bereits seit dem ersten Tag ein leichter Wind, sodass es uns auch heute nie zu heiss wird. Nach ein paar Kilometern und einigen Höhenmetern öffnet sich uns ein einmaliger Ausblick über die Kokosnuss-Plantagen.
Wir reiten tiefer in die riesigen Dünen hinein und stossen auf Lagunen! Was für ein atemberaubendes Naturphänomen! Während der Regenzeit sammelt sich das Regenwasser in den Gräben der Dünen und bildet diese wunderschönen Gewässer. Unglaublich. Jetzt weiss ich auch, warum der Staat, in dem wir uns befinden, Alagoas (die Lagunen) heisst.
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Nach zwei eher langsamen Tagen in den Dünen erreichen wir am letzten Tag noch einmal den Strand und legen einen Zacken zu. Ich wünschte, unser Ritt würde niemals enden, doch es dauert nicht allzu lange, bis wir unser Ziel schon von Weitem sehen – der Fluss Rio San Francisco. Ich merke es meinen Mitreitern an – niemand ist erfreut, dass unser Abenteuer bald zu Ende sein wird.
Doch bevor es so weit ist, wartet noch eine Überraschung auf uns. Nachdem wir den Fluss erreicht und unsere Pferde den Vacqueiros übergeben haben, meint Jacira: «Geht und zieht eure Badeanzüge an. Wir gehen noch mit den Pferden schwimmen!» Das muss sie mir nicht zweimal sagen! Ich nehme Leão und führe ihn in den Fluss. Er kann es kaum abwarten und läuft mit grossen Schritten ins Wasser hinein. Im Nu schaut nur noch sein Kopf über die Wasseroberfläche und er schnaubt vor Freude, während ich mich an ihm festhalte. Einfach nur wow – was für ein Erlebnis!
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Irgendwann ist es dann aber an der Zeit, Abschied zu nehmen. Ich pflücke ein letztes Palmblatt und gebe es Leão, der es genussvoll frisst. Äpfel mag er nicht, aber von Palmenblättern kann er nicht genug bekommen. Er ist halt ein Strandpferd … da wachsen keine Äpfel.
Nachtrag
Brasilien hat mich während meinem ersten Besuch bei den Gauchos im Süden des Landes (Westerner März 2023), in seinen Bann gezogen. Bis dahin wusste ich nicht, dass Brasilien, nach den USA, Mexiko und China, das Land mit der viertgrössten Pferdepopulation der Welt ist. Aber nicht nur das. Brasilien besitzt je nach Gegend auch eine Vielzahl verschiedener Pferdekulturen, Pferderassen und Cowboys. Das ist nun die zweite dieser Pferdekulturen, die ich kennenlernen durfte. Weitere werden zweifellos folgen.
Erschienen im WESTERNER 2023/11
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